Junge
Liebe
Kapitel 2
Eine Geschichte
über die Jugend, die Liebe und erste Male.
© 2012-2014 Coyote/Kojote/Mike Stone
Teil 01
Teil 02
Teil 03
Teil 04
Teil 05
Teil 06
Teil 07
Teil 08
Auch diesmal geht mein Dank wieder an Theodor und die anderen Erstleser für ihr Feedback.
Es folgt in Kürze noch ein Epilog zum zweiten Kapitel.
Es folgt in Kürze noch ein Epilog zum zweiten Kapitel.
XXXVI.
Tanja erwachte aus ihrem leichten Schlaf, als sie ein
Geräusch hörte.
Sie schlief nicht mehr sehr ruhig, seitdem Peter
dagewesen war. Aber sie hütete sich, das den Schwestern zu erzählen.
Es war ihr scheißegal, was die Ärzte davon hielten. Sie
war nicht hysterisch, sondern einfach verzweifelt. Sie musste es ihm erklären.
Sie musste sich entschuldigen. Sie musste… irgendwie alles wieder gut machen.
Aber statt sie wenigstens telefonieren zu lassen, drohte
man ihr dauernd mit Beruhigungsmitteln und fesselte sie an ihr Bett. Keiner
wollte ihr zuhören. Nicht einmal dieser Penner, der sich Psychologe nannte.
Stattdessen zwang man sie dazu, hier zu bleiben und
‚gesund‘ zu werden. Und wenn sie nicht aufpasste, würde sie wahrscheinlich in
einer Geschlossenen landen.
Schließlich kannten die hier mittlerweile ihre
Krankenakte…
Als sie aufschreckte, wusste sie für einen Moment nicht,
was los war. Aber dann sah sie eine Bewegung in den Schatten bei der Tür. Und
sofort machte ihr Herz einen Sprung.
„Peter?“, fragte sie mit mühsam unterdrückter Erregung in
der Stimme. „Peter, bist du das?
Gott! Ich bin so froh, dass du da bist. Ich wollte… Ich
muss…
Es… es tut mir leid, Peter. Ich… ich erwarte nicht, dass
du mir verzeihst. Ich will dir nur sagen, dass es mir unendlich leidtut. Alles!
All die Dinge, die ich dir angetan habe. Alles, was ich zu dir gesagt habe. All
die… Gemeinheiten.“
Nach Luft ringend hielt sie inne. Die Gestalt kam langsam
näher, aber irgendetwas stimmte nicht. Es war schwer auszumachen, aber
irgendwie…
„Peter? Sag doch etwas… Bitte!“, flehte sie und klammerte
sich an die Hoffnung, die ihr als Einziges noch blieb.
Aber die Gestalt trat nur stumm an ihr Bett.
Hasste er sie so sehr, dass er nicht einmal mehr mit ihr
reden wollte? Verdient hatte sie es. Ohne Zweifel. Aber… Wenn er nicht reden
wollte, weswegen war er dann hier?
Sie sah, wie sich ein Schatten auf ihren Kopf zubewegte.
Seine Hand vielleicht? Wollte er… sie berühren? Sie schlagen?
Nun… Wenn es das war, was er wollte, würde sie es
ertragen. Sie hatte es verdient. Sie hatte jede Strafe verdient. Also streckte
sie ihm das Gesicht entgegen und biss die Zähne zusammen.
„Jaja…“, murmelte eine unangenehm vertraute Stimme.
„Wärst du mal nich so gemein gewesen, wär dir das erspart geblieben.“
„Laber nich“, grunzte eine andere Stimme aus dem
Hintergrund. „Halt ihr die Fresse zu, du Depp!“
In dem Moment, in dem Tanja Rene erkannte, holte sie
sofort Luft, um zu schreien. Aber es war zu spät.
Grob presste er seine Hand auf ihren Mund und ihre Nase.
Raubte ihr die Luft zum Atmen. Und nahm ihr die Möglichkeit, um Hilfe zu rufen.
Und sie konnte sich nicht einmal dagegen wehren.
„Praktisch, dass sie ans Bett gebunden ist“, kommentierte
Rene Pfaffer - Tanjas mit Abstand schlimmster Alptraum.
„Halts Maul und halt dich bereit. Wenn ich es sage,
nimmst du die Hand weg und ich kleb ihr die Fresse zu.“
Die zweite Stimme war nähergekommen und nun gab es einen
weiteren Schatten an Tanjas Bett. Sie war sich nicht sicher, aber es musste
einer der anderen Pfafferbrüder sein. Nur… Was wollten die Wichser von ihr?
‚Nichts Gutes‘, wisperte eine innere Stimme ihr zu. ‚Sie
kommen, um dir die Strafe zu verpassen, die du verdienst…‘
Der Gedanke traf sie wie ein elektrischer Schlag und ließ
sie ihre Gegenwehr kurz einstellen. Was sich als Fehler erwies, denn mehr
brauchten die beiden Gestalten nicht, um ihr den Mund mit Klebeband zuzukleben.
„Wie wir besprochen haben“, brummte der Zweite danach.
„Einen Arm nach dem anderen und schön verschnüren. Wir brauchen kein Gezappel,
wenn wir sie hier wegbringen.“
„Ja, ja“, murrte Rene. „Mach hinne. Ich hab Lust, meine
‚Freundschaft‘ mit ihr zu erneuern.“
Tanja riss die Augen weit auf und was noch gesagt wurde,
wurde vom Rauschen des Blutes in ihren Ohren übertönt.
‚Nein!‘, schrie sie aus Leibeskräften, aber es wurde von
ihrem Knebel erstickt. ‚Nicht wieder! Nicht noch einmal! Lieber sterbe ich!‘
Doch es interessierte keinen der beiden Brüder, was sie
davon hielt. Sie setzen ihre überlegene Kraft ein und befreiten sie von ihren
Fesseln, nur um sie Stück für Stück zu einem handlichen Paket zu verschnüren.
Niemand hörte ihre stummen Schreie. Niemand, außer ihr
selbst.
*****
Haus, Hof und Garten der Familie Bübler lagen ebenso
friedlich und still da, wie der Rest des Dorfes. Es war mitten in der Nacht und
nicht einmal auf der vielbefahrenen Hauptstraße herrschte Verkehr.
Es gab praktisch keine Geräusche. Nicht einmal rollige
Katzen, die irgendwo nach einem Kater suchten. Nichts.
Und trotzdem lag Peter wach. Irgendetwas hatte ihn
aufgeschreckt. Und nun konnte er nicht mehr einschlafen. Er hatte ein sehr,
sehr unangenehmes Gefühl in der Magengegend. Aber nicht von der körperlichen
Sorte.
Zu lange versuchte er, sich nicht zu rühren, um die
beiden Frauen nicht zu stören, die ihn mit ihren Körpern fast bedeckten. Sie
schliefen tief und fest und friedlich. Und das war auch kein Wunder nach dem,
was sie einander angetan hatten.
Fast hätte er bei der Erinnerung an die Show, die sie ihm
geboten hatten, gelächelt. Selbst von ihrem leidenschaftlichen Spiel
ausgeschlossen war er doch Teil davon gewesen. Und dafür war er dankbar.
Sie hatten sich ihren Schlaf verdient. Und er sollte auch
versuchen, Ruhe zu finden. Aber es wollte einfach nicht klappen.
Irgendwann gab er auf. Vorsichtig löste er sich aus der
doppelten Umarmung und murmelte entschuldigend, dass er gleich wieder da sei.
Glücklicherweise rührten sie sich zwar beide ein wenig, ließen sich aber von
seinen Worten wieder besänftigen und schliefen weiter.
Sicherheitshalber ging er daraufhin zur Toilette. Aber
wie erwartet war die Nervosität in seiner Magengrube nicht körperlich.
Seufzend schlich er sich wieder ins Schlafzimmer und
sammelte schnell seine Hose, Socken und Schuhe auf. Und eine Unterhose aus dem
Schrank, weil er sich gerade nicht nach Nacktheit unter der Hose fühlte.
Er zog sich allerdings erst in der Küche an, um auch
wirklich unbemerkt zu bleiben. Und dann setzte er sich an den Tisch und
versuchte, die Gründe für das Unwohlsein zu ergründen. Aber es war völlig
hoffnungslos.
In Ermangelung anderer Einfälle beschloss er schließlich,
sich draußen ein wenig die Beine zu vertreten. Und genau deswegen trat er
zufällig gerade aus der Tür, als eine verhüllte Gestalt am Tor sich streckte
und eine Wurfbewegung ausführte.
Zuerst verstand der junge Mann nicht, was er da
eigentlich sah. Aber dann klirrte es laut, als ein Stein oder etwas in der Art
die Fensterscheibe zu seiner Küche zerschmetterte. Die Gestalt gab daraufhin
sofort Fersengeld.
Kurz war Peter wie erstarrt. Die Idee, dem Arschloch
nachzulaufen, verwarf er sofort wieder. Zu viel Vorsprung. Aber was sollte der
Scheiß? Diese Art von Vandalismus passte so gar nicht in dieses Dorf. Das kam
hier einfach nicht vor.
Angespannt ging er wieder hinein und hörte Nadia nach ihm
rufen.
„Alles in Ordnung!“, antwortete er laut. „Ein… Stein…?“
Seine Worte wurden leiser, als er auf den halben
Backstein sah, der durch das Fenster geflogen war. Der Stein selbst war nicht
wirklich aufsehenerregend. Der Zettel, den man darum gewickelt hatte, schon.
Stirnrunzelnd und innerlich immer unruhiger hob er die
Nachricht auf, löste die Schnur, mit der sie befestigt war und versuchte, die
krakelige Schrift zu entziffern. Aber erst, als er das Licht einschaltete,
konnte er einen Sinn in den Worten entdecken.
Dann lief es ihm allerdings eiskalt den Rücken hinunter.
„Nein!“
*****
Nadia rieb sich den Schlaf aus den Augen und erwiderte
Pattys fragenden Blick mit einem Achselzucken.
Sie war aus dem schönsten Traum gerissen worden, als es
laut schepperte und klirrte. Aber das war okay, denn sie kehrte in ihre
traumhafte Realität zurück.
Nur leider war der Mittelpunkt ihres Universums nicht im
Bett…
„Peter?“, hatte sie gerufen. Und als er nicht antwortete
noch einmal lauter: „Peter?“
„Alles in Ordnung!“, war die Antwort aus Richtung der
Küche gekommen. „Ein…“, setzte er an und dann wurde er zu leise, um ihn zu
verstehen.
Zunächst beruhigt war sie zurückgesunken. Was auch immer
es gewesen war, es schien unter Kontrolle. Also musste sie nicht sofort
losrennen, um nachzusehen.
„Katzen vielleicht?“, fragte Patty.
„Keine Ahnung, aber wenn, dann…“, murmelte die Blondine.
„Nein!“,
brüllte da plötzlich Peter in der Küche.
Keine Sekunde später war Nadia auf den Beinen. Sie hatte
ihren Geliebten schon in so einigen Stimmlagen gehört. Aber diese war neu. Und
zutiefst erschütternd.
Es war ein Schrei der ohnmächtigen Wut gewesen. Und er
wurde gefolgt vom Geräusch sich schnell entfernender Schritte.
Mit Patty unmittelbar auf den Fersen flitzte Nadia in die
Küche. Aber Peter war nicht da.
„Peter?“, rief sie ängstlich. „Baby?“
Dann hörte sie ein lautes Quietschen von draußen und
Augenblicke später Peters Wagen, wie er ansprang und dann mit viel zu hoher
Geschwindigkeit von Hof schoss.
„Peter!“, keuchte sie entsetzt.
„Nadia!“, kreischte da plötzlich Patty hinter ihr voller
Angst.
Alarmiert fuhr sie herum und sah ihre Freundin einen Zettel
in der zitternden Hand halten. Rasch trat sie näher und versuchte, die Sauklaue
zu entziffern. Und dann, sich einen Reim auf die Worte zu machen.
Haben dein
Kussine Büpler!!!
Kom zur Bauruine in
Walt!!!
Patze Schlambe weis
wo!!!
Pring Blondie mit!!!
15 Minuden sons
stirpt die Schlambe!!!
KEINE BULLEN sons
lass mer dir n Arm da!!!
„Was…? Was…?“, keuchte Nadia schockiert.
„Meine Brüder“, wimmerte Patty.
„Die Waschlappen?“, staunte die Blondine.
„Das ist Pierres Handschrift! Und der steckt in richtig
üblen Sachen mit drin, Nadia. Mit richtig üblen Leuten!“
Nadia fühlte, wie ihr Herz einen Augenblick lang zu
schlagen aufhörte.
Der Ausdruck in Pattys Augen war blanke Angst. Und sie
kannte ihren Bruder am besten. Wenn er wirklich mehr als ein Maulheld war…
Panik kroch ihr in die Kehle. Aber sie knallte die Faust
auf den Tisch und ließ den Schmerz die Angst zurückdrängen.
„Ruf die Polizei!“, forderte sie Patty auf und wandte
sich ab.
„Aber…“
„Tu es, Patty. Und sag ihnen, wo sie hin müssen.“
„Und du?“, fragte Patty, während sie hinter Nadia hereilte,
um zum Telefon im Wohnzimmer zu gelangen.
„Ich hole Kenny oder irgendwen, der ein Auto hat. Und du
sagst mir, wo ich hin muss.“
Damit war sie aus dem Raum und im Schlafzimmer. Ihr
erster Impuls war, das Nächstbeste anzuziehen, aber sie besann sich und suchte
sich schnell eine Shorts und ein Shirt. Und dazu ihre Turnschuhe.
Schnell schlüpfte sie in die Kleidung und war beinahe
fertig, als sie einen erstickten Schrei und dann Gerangel und eiliges Getrappel
aus dem angrenzenden Raum hörte.
„Halt still!“, zischte eine sich entfernende
Männerstimme.
Noch ohne Schuhe und mit bis in den Hals schlagendem
Herzen sprang sie zur Durchgangstür und hindurch. Fast hätte sie nach Patty
gerufen, aber sie hielt sich zurück. Und sie rannte auch nicht weiter, sondern
versuchte, sich leise zu bewegen. Wenn es Probleme gab - und es sah verdammt
danach aus - half sie niemandem, wenn sie kopfüber hineinstürzte.
Vorsichtig schlich sie durch die Küche zur Eingangstür
und lugte hinaus. Und dort sah sie zwei Männer, die eine sich windende Patty
mit sich zerrten. Offenbar hielten sie ihr den Mund zu und ebenso offenbar war
zumindest einer von ihnen ein völlig Fremder, während der andere der
untersetzte Andre zu sein schien.
Fuck!!
Zielstrebig liefen die beiden über den Hof und auf die
Straße. Sie wussten, wo sie hinwollten und die Chancen standen gut, dass auch
Peter dorthin auf dem Weg war. So schwer es ihr fiel, ihre Freundin im Stich zu
lassen - sie eilte zurück ins Schlafzimmer und streifte sich ihre Schuhe über.
Und dann hielt sie nur noch einmal in der Küche inne, um sich ein Messer aus
der Schublade zu nehmen.
Danach lugte sie noch einmal hinaus und sah gerade noch,
wie ein Wagen aus einer Seitengasse kam und sich mit einem Affenzahn aus dem
Staub machte.
Schlecht. Aber auch gut, denn damit hatte sie freie Bahn.
Und zwar hinüber zu Kennys Haus.
*****
Kenny schreckte hoch, als jemand seinen Namen rief und
gleichzeitig sturmgeklingelt wurde.
Das war hoffentlich reichlich wichtig, sonst würde er…
Moment… War das nicht Nadias Stimme? Und klang sie völlig
außer sich?
Schnell rollte er sich aus dem Bett und eilte zur
Vordertür, noch während seine Mutter von oben nachfragte, was zur Hölle denn
los sei.
„Gleich, Mom!“, schnauzte er und riss die Tür auf.
Tatsächlich stand eine atemlose und sehr aufgeregt
wirkende Nadia davor.
„Sie haben Tanja und Patty. Und Peter ist auf dem Weg zu
ihnen. Sie meint, vielleicht ist ihr Bruder Pierre dabei. Und der soll
gefährlich sein. Brauche ein Auto, Kenny. Bitte!“
„Wohin?“, fragte er sofort, während ihm heiß und kalt
wurde.
„Bauruine? Wald?“
„Kenne ich. Eine Minute!“
„Kenny…“, setzte sie an.
„Eine - Minute“, sagte er energisch.
Daraufhin nickte sie.
„Mom!“, brüllte er, während er sich umdrehte. „Ruf die
Bullen und sag ihnen, sie sollen zur alten Bauruine im Wald über dem Dorf
kommen. Da, wo die Villa gebaut werden sollte.
Und sag ihnen, es geht um Leben und Tod!“
„Kenneth?“, rief seine Mutter verwirrt von oben, während
er in seinem Zimmer in seine Klamotten sprang.
„Bauruine der Villa im Wald, Mom! Leben und Tod! Kein
Scheiß!“, schnauzte er ungeduldig. „Pierre Pfaffer! Sag ihnen den Namen, Mom.
Pierre Pfaffer!“
Ohne ihre Antwort abzuwarten, schnappte er sich ihren
Autoschlüssel vom Schlüsselbrett und flitzte an Nadia vorbei zu dem kleinen
Renault. Die Blondine war unmittelbar hinter ihm. Das musste er nicht erst
überprüfen.
Sekunden später trat er das Gaspedal durch und raste los.
Und erst dann gestattete er sich, über sein weiteres Vorgehen nachzudenken.
„Was ist passiert? In Kurzfassung“, keuchte er.
„Geklirr, aufgewacht, Peter schreit, rennt raus, fährt
los. Stein, Brief. Haben Tanja und drohen. Umbringen oder verstümmeln. Keine
Bullen“, ratterte sie atemlos hinunter. „Anziehen, Patty Bullen rufen.
Gerangel, zwei Typen holen Patty, einer Andre, glaub ich. Zu viel für mich.
Versteckt. Angezogen, losgerannt.“
Als vielleicht einer von unter einer Million Menschen war
Kenny durch diese Aufzählung perfekt im Bilde. Er hasste es manchmal, wie langsam
Leute Dinge erklärten. Vor allem, wenn er unter Storm stand. Aber mit dieser
Art der Schilderung konnte er was anfangen.
„Du bist okay?“, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
„Verletzt?“
„Scheiß Angst!“
Das machte Sinn. Angst war etwas, was er auch noch haben
würde, bevor diese Geschichte vorbei war. Aber jetzt gerade ritt er die erste
Welle Adrenalin und fühlte sich trotz der Umstände ziemlich gut.
Nur einen Plan hatte er noch nicht. Aber wenigstens waren
sie unterwegs. Und sie konnten Zeit für die Bullen schinden, die hoffentlich
den Notruf ernst nehmen würden. Der Name Pierre Pfaffer war ihnen jedenfalls
bekannt. Selbst nach all den Jahren, die der Mistkerl im Knast und sonst wo in
der Weltgeschichte verbracht hatte.
Hoffentlich…
Erst dann sickerte eine bestimmte Information so richtig
zu ihm durch: Tanja! Sie hatten Tanja!
Als wäre das, was einer der Wichser ihr angetan hatte,
nicht schon genug gewesen. Als hätte sie nicht schon genug durchgemacht. Jetzt
wurde sie auch noch als Geisel benutzt.
Aber diesmal nicht! Seine Zähne knirschten, als er sie
fest zusammenbiss.
Diesmal
nicht!
*****
Renates Herz schlug viel zu schnell, aber für ihre
Tabletten war keine Zeit. Geklirr hatte sie hochgeschreckt und zuerst war sie
verwirrt gewesen. Es war mitten in der Nacht und es war auch nichts weiter zu
hören gewesen. Trotzdem mochte sie den Gedanken nicht, dass vielleicht
irgendetwas zu Bruch gegangen war.
Langsam quälte sie sich aus dem Bett. Nie zeigte sich die
Last der Jahre so überdeutlich, wie beim Aufstehen. Aber ihr Wille war noch
immer stärker.
Es hatte sie sehr irritiert, dass ein Wagen mit
quietschenden Reifen vom Hof geschossen war. Peter?
Ein Blick aus dem Fenster hatte natürlich nichts
offenbart. Bis auf die zwei Gestalten, die sich geduckt auf den Hof schlichen.
Gütiger Gott!
Renate überlegte nicht, ob sie zum Telefon oder zum
Schrank gehen sollte. Die nächste Polizeiwache war mehr als fünfzehn Kilometer
entfernt und das Dorf war sehr, sehr ruhig. Also war die nächste Streife
womöglich noch weiter weg.
Sie musste sich selbst zur Wehr setzen. Und sie musste
schauen, ob die Kinder Hilfe brauchten. Vielleicht war Peters Wagen gestohlen
worden. Und vielleicht wollten die Gauner noch mehr klauen.
Rasch streifte sie den Morgenmantel über und holte die
Geldkassette aus ihrem Versteck. Einmal hatte sie dieses Geschenk von Rudolf zu
gut versteckt. Und dann hatte sie es nicht zur Hand gehabt, als der Russe kam,
um ihr Familie, Heim und Unschuld zu nehmen.
Seitdem war es immer in der Nähe und sie pflegte es jede
Woche, wie ihr schneidiger Obergefreiter es ihr bei seinem letzten Fronturlaub
beigebracht hatte. Und so war es wohl besser in Schuss, als sie selbst.
Sorgfältig nahm sie eines der Magazine und führte es ein.
So vertraut war ihr diese Bewegung, dass sie nicht einmal dabei zitterte,
obwohl sie sehr aufgeregt war. Und auch das Spannen des Kniegelenks
funktionierte genau so, wie es sollte.
„Sie soll dein Beschützer sein, wenn ich an der Front
bin“, hatte er ihr erklärt. „Man kann nie wissen, ob nicht einmal Räuber
kommen, weil sie denken, alle guten Männer stehen an der Front und sie können
leichte Beute machen. Besonders so wertvolle Beute, wie meine kleine Renate!“
Dann hatte er sie hochgehoben und an sich gedrückt. Und
sie hatte sich an ihm festgehalten, als hinge ihr Leben davon ab. Weil sie
damals glaubte, dass er sie heiraten würde. Er hatte es versprochen. Und wenn
der Krieg vorbei war - sie sagten ja immer, dass es nicht mehr so lange dauern
konnte, bis zum Endsieg - wäre sie auch alt genug und der Vater würde es
erlauben.
Und wenn er es nicht erlaubte, dann würde sie den Rudolf
halt küssen und schwanger werden und dann musste er es gestatten. Ach was war
sie mit vierzehn doch noch unschuldig gewesen…
Viel größer als damals war heute ihre Hand. Und auch wenn
die Kräfte nachließen, war sie kein schwaches Kind mehr. Also würde sie schon
mit dem Bocken der Pistole zurechtkommen, wenn es sein musste. Wie sie sich
hinstellen musste, wusste sie ja noch ganz genau.
Unbeirrt von den Erinnerungen, die über sie
hereinbrachen, war sie langsam die Treppe hinunter gegangen und zur
Verbindungstür geschlichen. An ihrer Haustür war alles in Ordnung, also mussten
die Gauner nach den Kindern trachten.
Doch als sie leise die Tür zur Einliegerwohnung öffnete,
war es wohl schon zu spät. Niemand war mehr da. Alles war in Unordnung. Und auf
dem Tisch lag ein Zettel.
*****
Tanja zuckte zusammen, als sie die Schritte hörte.
Sie konnte noch nicht lange aus dem Krankenhaus weg sein.
Vielleicht erst Stunden. Aber sie hatte schon gelernt, das Geräusch der
Schritte auf dem groben Stein- oder Betonboden zu fürchten.
Beim ersten Mal war es Rene gewesen, der ohne zu zögern
ihre Brüste und Schenkel betatscht hatte und ihr davon erzählte, was er alles
mit ihr anstellen würde, wenn Peter erst einmal erledigt wäre.
Und Tanja hatte geweint, weil sie Angst vor dem hatte,
was er ihr antun würde. Und vor dem, was er und seine Brüder vielleicht Peter
antun mochten. Aber geholfen hatte ihr das nicht.
Geholfen hatte ihr irgendein Fremder. Oder vielleicht war
es auch Pierre, der älteste der Pfaffer Brüder. Jedenfalls hatte er Rene
angeschnauzt, die Finger von ihr zu lassen. Was sie fast schon mit Dankbarkeit
erfüllt hatte. Bis er irgendwann wiederkam und ihr von seinen Plänen erzählte.
„Wenn du nicht tust, was ich sage“, hatte er ihr ins Ohr
geraunt, „wird all das, was dir bevorsteht, sehr viel mehr wehtun.
Ich kann dich so schlagen, dass es keine Spuren
hinterlässt. Und ich kann dich so ficken, dass es richtig wehtut. Und vor allem kann ich dafür sorgen, dass
du von jemandem gekauft wirst, der eine kleine Schlampe zum Totquälen haben
will.
Oder du bist artig und gehorchst. Dann tut das Ficken
nicht so weh und es kauft dich jemand, der vielleicht sogar mal ein bisschen
nett zu dir ist. Deine Entscheidung.“
Die Worte waren schlimmer gewesen als alles, was Renes
Finger oder sein Pimmel ihr antun konnten.
Tanja schämte sich vor sich selbst, weil sie schon wieder
selbstsüchtig war. Sie hasste sich dafür, aber sie hatte schreckliche Angst.
Mehr als alles andere hatte sie Angst davor, zu Tode gequält zu werden. Vor den
Schmerzen.
Sie nickte so ausholend, wie sie konnte, um ihm zu
zeigen, dass sie artig sein wollte. Und gleich im nächsten Moment wollte sie
sich am liebsten selbst umbringen, weil sie Peter damit verriet. Wieder!
Als nun die Schritte wiederkamen, befürchtete sie, es
wäre soweit. Nun würde er ihr wehtun. Oder sie verkaufen. Oder was auch immer
mit ihr tun.
Sie hatte Angst. So entsetzlich viel Angst, dass sie die
Kontrolle über ihre Blase verlor. Was ihre Lage nur noch schrecklicher machte.
Und sie anwiderte, weil sie so schwach war. So jämmerlich und wertlos.
„Zeit für deinen Auftritt, Puppe“, grunzte ein völlig
Fremder. Dann schnüffelte er kurz. „Hast du dich eingepisst? Oder hat einer der
Penner hier in die Ecke gestrullt?“
Ohne eine Antwort auf seine Frage zu erwarten, packte er
einen Teil ihrer Fesseln und zerrte sie auf die Füße. Mit zusammengebundenen
Beinen konnte sie kaum stehen, aber das schien ihn nicht zu interessieren.
„Ich schneide dir die Fesseln unten auf. Aber wenn du
wegläufst, fängst du dir ne Kugel ein, klar?“, erklärte er. „Scheiße… Du hast
dich wirklich eingepisst… Na das wird Pierre gefallen. Wenn er dir jetzt den
Arsch wundfickt, hast du selbst schuld…“
Tanja konnte nur wimmern und trotz der zusätzlichen
Bewegungsfreiheit ihrer Beine knickte sie ein. Aber der Fremde riss sie wieder
hoch und zerrte sie mit sich.
Unter ihren Füßen fühlte sie lauter kleine und größere
Steine, die ihr in die Sohlen stachen. Und die kalte Nachtluft, die ihr unter
das Krankenhausleibchen fuhr, ließ sie frösteln. Aber das interessierte
niemanden.
Sie war schließlich nur Abschaum. Wertlos…
„Nimm ihr die Kapuze ab“, wies Pierre den Fremden an.
„Der Bubi soll sehen, dass sie es ist, wenn er ankommt.“
Rasch wurde der Sack, den man ihr über den Kopf gezogen
hatte, entfernt. Und Tanja konnte einen Blick in die Runde werfen. Aber
Erleichterung brachte ihr das keine.
Sie befand sich vor einer Bauruine im Wald. Vielleicht
die alte Villa, die nie ganz fertiggestellt worden war. Abgelegen und kaum noch
jemandem bekannt. Das würde passen.
Zu ihrer Rechten stand Rene und starrte sie anzüglich
grinsend an. Ihr verrutschter Kittel schützte sie praktisch nicht mehr vor seinen
Augen. Und sie konnte nichts dagegen tun.
Auf der anderen Seite stand der hochgewachsene Pierre und
etwas weiter entfernt sein Bruder Andre. Ersterer starrte in die Ferne und
Letzterer betrachtete sie ähnlich interessiert, wie es Rene tat.
Wo der Fremde steckte, konnte sie nicht sagen. Aber
vermutlich war er hinter ihr.
„Es ist kein Streifenwagen“, verkündete Pierre nun.
„Sieht schon aus wie die Karre von dem Bubi.“
Erst jetzt bemerkte Tanja, dass er ein Fernglas vor den
Augen hatte.
„Sieht so aus, als könntest du deinen Arm behalten,
Schlampe.“
Aber Tanja hörte ihn kaum noch. Sie starrte auf die
näherkommenden Lichter und kämpfte mit den Tränen.
Sie wollte ihm zurufen, nicht hierher zu kommen. Sie
ahnte, dass ihm weit mehr als eine Tracht Prügel drohte. Aber ihr Herz machte
Luftsprünge, denn Peter kam. Wegen ihr! Um sie zu retten!
Er… ließ sie nicht im Stich, so wie sie ihn im Stich
gelassen hatte.
Oh… warum ließ er sie nicht im Stich?
Er sollte doch bei Nadia sein und nicht hier.
Jähes Entsetzen rang mit der Freude in ihrer Brust, als
ihr Blick auf die Pistole fiel, die Pierre in seinem Gürtel stecken hatte.
Er durfte nicht kommen! Sie… sie würden ihn… töten!
*****
Peter war unfähig einen klaren Gedanken zu fassen,
während er durch die Nacht raste.
Tanja war in Gefahr. Es stand außer Frage, dass er ihr
helfen musste. Und es stand ebenfalls außer Frage, Nadia in Gefahr zu bringen.
Also war er allein.
Das war nicht vernünftig, aber es war die einzige Option.
‚Fünfzehn Minuten‘, hatte auf dem Zettel gestanden. Nicht
genug Zeit für die Polizei. Also kam das nicht in Betracht. Aber hoffentlich
ignorierten die beiden Frauen die Drohung und verständigten sie trotzdem.
Eine leere Drohung war es möglicherweise. Aber vielleicht
auch nicht. Wenn Pierre Pfaffer mit von der Partie war, war so ziemlich alles
möglich. Der Typ war ein irrer Schläger.
So oder so konnte Peter das Risiko nicht eingehen.
Er lenkte seinen Wagen durch den Wald. Er kannte sein
Ziel und musste nicht suchen. Dafür hätte er auch keine Zeit gehabt.
Als der große Rohbau in Sicht kam, der einmal eine Villa
hatte werden sollen und der jetzt schon wieder langsam im Wald verschwand,
atmete er auf. Im Licht seiner Scheinwerfer sah er die gesamte
Pfaffer-Bruderschaft. Und er sah Tanja.
Aber als Nächstes wurde er wütend, denn seine Cousine
stand zitternd in einem völlig verschobenen Krankenhauskittel da und war mit
reichlich Klebeband am ganzen Oberkörper umwickelt. Sogar auf die Entfernung
konnte er die Angst in ihrem Gesicht ganz klar erkennen.
Rasch stieg er aus und stapfte los, ohne auch nur den
Motor abzustellen. Irrer Schläger oder nicht - Pierre Pfaffer war fällig für
die Tracht Prügel seines Lebens. Und seine Brüder waren danach dran.
Ohne das geringste Zögern steuerte er mit geballten
Fäusten auf den Wichser zu, der Tanja mit einer Hand an seiner Seite hielt. Die
schüttelte wild den Kopf und wimmerte, aber Peter beachtete sie nicht. Noch
nicht. Zuerst musste er…
„Das reicht, Bubi“, knurrte Pfaffer.
Und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, holte er
eine schwarze Pistole hinter seinem Rücken hervor und richtete sie auf Peter.
Der hielt kurz inne. Aber dann spannte er sich auch schon
an, um vorwärts zu springen. Koste es, was es wolle. Der Gnade der Pfaffers
konnte er sich jedenfalls kaum ausliefern. Dann waren Tanja und er am Arsch.
Dummerweise war Pierre kein so großer Idiot wie seine
Brüder. Er erkannte, was vor sich ging. Und er schaltete Peter auf die einzig
mögliche Weise aus.
„Denk nicht, ich würd bluffen“, schnauzte er, während er
Tanja die Pistole in die Seite drückte.
Peter blieb stehen und zwang sich dazu, sich zu
entspannen.
„Du hast mich. Lass sie gehen“, forderte er mühsam
beherrscht.
„So läuft das nicht“, erklärte Pierre höhnisch. „Los ihr
Pappnasen. Er gehört euch. Macht ihn fertig.“
Peter starrte sein Gegenüber hasserfüllt an, während sich
Andre und Rene zögerlich in Bewegung setzten. Und dann sah er Tanja an, die
gegen ihren Knebel anschrie und versuchte, sich loszureißen, während ihr die
Tränen über die Wangen strömten.
„Nicht deine Schuld, Kleines“, sagte er, mühsam um
Sanftheit in der Stimme bemüht.
Als Rene neben ihm ausholte, um ihn ins Gesicht zu
schlagen, tat er… nichts.
*****
Patty wehrte sich nach Kräften gegen die beiden Fremden.
Sie wusste nicht, was los war. Aber sie wusste, dass sie das nicht wollte. Nur
war schon einer von ihnen mehr als stark genug, um mit ihr fertig zu werden.
Man schleppte sie über die Straße zu einem Auto und sie
hoffte kurz, Nadia würde kommen, um ihr zu helfen. Und dann hoffte sie, Nadia
würde genau das nicht tun, sondern die Polizei rufen. Denn sonst hätten die
beiden Typen gleich zwei Gefangene.
Es war nicht schwer, sich auszurechnen, dass sie Penner
zu Pierre gehörten. Sie trugen Lederwesten, rochen nach Alkohol und waren grob
an der Grenze zur Gewalttätigkeit. Das passte.
Demnach würde man sie wahrscheinlich dorthin bringen, wo
sie ohnehin hinwollte. Nur nicht ganz in der Weise, wie sie dorthin wollte.
Frustriert zwang sie sich dazu, ihre Gegenwehr einzustellen und ließ sich von
einem der beiden Typen auf die Rückbank des Wagens ziehen.
Wenn sie doch nur wie Nadia wäre und sich einen Plan
ausdenken könnte…
„Fessel die Schlampe“, forderte derjenige der Typen, der
sich ans Steuer setzte.
„Jaja… Gleich…“, meinte der andere. „Nur kurz mal auf
Tuchfühlung gehen…“
Pattys erster Impuls war, sich sofort aufzubäumen und zu
kämpfen. Aber sie riss sich zusammen, als ihr etwas einfiel: ‚Wenn Männer
Geilheit sehen, fängt ihre Hose an, für sie zu denken.‘
Also versuchte sie, sich soweit es ging zu entspannen.
Und als der Dreckskerl ihr an die Brust griff, stöhnte sie verhalten und
presste ihren Oberkörper ein wenig der Hand entgegen.
Es dauerte ein paar Minuten, bis der Dummkopf die Signale
verstand, die ihm gegenüber wahrscheinlich noch keine Frau jemals ausgesandt
hatte. Patty befürchtete schon, zu sehr zu übertreiben, als er endlich stutzte.
„Ich glaub, die Schlampe ist geil“, meinte er.
„Klar. Ganz bestimmt“, höhnte sein Kumpan.
„Alter… Die reibt sich an mir. Ich sags dir!“
„Genau… Bist du geil, Kleine. Stehst du auf harte Kerle
wie uns?“
Er sah dabei in den Rückspiegel und sagte es sarkastisch.
Aber er stutzte verblüfft, als sie langsam und deutlich nickte.
„Nimm mal die Flosse von ihrer Futterluke, Daniel“,
schnauzte er.
„Ja“, sagte Patty so leise und verführerisch wie möglich.
„Ich steh auf harte Kerle. Richtige
Kerle. Nicht solche Waschlappen wie Rene und Andre…“
„Kann ich verstehen“, gackerte der, der ihr weiterhin die
Brüste betatschte.
„Ein Jammer, dass wir keine Zeit haben, Süße“, sagte der
Fahrer und schenkte ihr ein Grinsen, bei dem ihr fast schlecht wurde, weil er
wohl keinen einzigen gesunden Zahn mehr im Mund hatte. „Aber später können wir
uns bestimmt amüsieren.“
Einerseits war Patty sehr froh darüber, dass sie sich
nicht jetzt ‚amüsieren‘ musste. Aber andererseits verfluchte sie ihre
Unfähigkeit. Nadia hätte das ganz sicher besser hinbekommen.
Allerdings musste sie sich eingestehen, dass der Typ, auf
dessen Schoß sie hing, ihr nicht einmal mehr die Hände festhielt. Offenbar
wurde sie nicht als Bedrohung betrachtet. Und das… war doch etwas, oder? Damit
ließ sich doch etwas anfangen…
Nur was? Was?
*****
„Walther! Wach auf, Walther! Du musst aufstehen!“
Walther brummte nur und fluchte im Geiste. Erst klingelte
mitten in der Nacht das Telefon ohne Pause. Was allein schon eine Frechheit
war. Wer rief den bitteschön zu nachtschlafender Zeit bei ihnen an? Das konnten
ja nur jugendliche Witzbolde sein. Mistpack!
Aber zum Glück war Elfriede dran gegangen und er hatte
sich wieder entspannt und versucht, seinen schönen Traum wieder aufzunehmen.
Den, in dem diese beiden jungen Dinger eine gewisse Hauptrolle spielten, die
der junge Bübler bei sich gehabt hatte, als Walther mit Fritz Gassi gegangen war.
Aber Elfriede war eisern. Wahrscheinlich spürte sie
instinktiv, dass er nicht von ihr träumte. Und gönnte ihm das Vergnügen nicht.
„Walther Müller!“, keifte sie. „Steh sofort auf und hol
dein Gewehr!“
Was war nur aus der süßen Brünetten geworden, die er
damals geheiratet hatte? Die mit der Engelsstimme, die ihn immer so bewundernd
anstarrte, wenn er einen kapitalen Bock mit nach Hause brachte. Und die… sich
nicht zu schade gewesen war, auch mal eine dieser modernen Stellungen im Bett
auszuprobieren…
Ach ja. Sie war zusammen mit ihm gealtert, ertrug Nacht
für Nacht sein Schnarchen, küsste ihn noch immer, ohne zu zögern, und lüftete
gerne auch noch ein oder drei Mal in der Woche ihr Nachthemd für ihn. Auch wenn
sie keine zwanzig mehr war, konnte er sich verflucht noch eins nicht wirklich
beschweren…
Moment! Gewehr?
„Was’nlos?“, nuschelte er benommen und versuchte, seinen
Halbschlaf abzuschütteln.
„Renate hat angerufen. Jemand hat ihre Enkelin entführt
und der Peter ist hinterher. Sie glaubt, die Scheißkerle sind bei der ollen
Ruine im Wald und sie fürchtet, die wollen der Tanja was tun.“
„Was?“,
grunzte er.
Das war ein wenig viel so kurz nach dem Aufwachen. Aber
dann fiel ihm siedend heiß etwas ein.
„Ja hol mich doch der Teufel!“, schnauzte er. „Ich wusste
doch gleich, dass diese Gestalten nichts Gutes im Schilde führen.“
Erst am Mittag hatte er seine Runde durch den Wald
gemacht. Schließlich war er für den Wildbestand verantwortlich. Und dabei hatte
er eine Gruppe Jugendlicher mit Motorrädern und Autos beobachtet, die sich an
der Bauruine herumgetrieben hatten.
Das missfiel ihm, aber solange sie kein Feuer legten oder
etwas in der Art, musste er es schlucken. Auch wenn er die Pfaffer-Burschen mit
dem Fernglas erkannt hatte. Und die waren wirklich besonders zwielichtige
Gestalten. Säufer und Raufbolde allesamt.
Jetzt hatten sie offenbar völlig den Verstand verloren…
So rasch er konnte, schwang er die Beine aus dem Bett und
rieb sich den letzten Rest Schlaf aus den Augen.
„Du musst für mich in den Keller gehen, Liebes“, sagte er
betont ruhig. „Der Schlüssel für den Panzerschrank liegt…“
„Ich weiß, Schatz“, sagte sie sanft. „Denkst du wirklich,
dass es so schlimm ist?“
„Ich habe heute die Pfaffers im Wald gesehen. Und
reichlich Jungvolk dabei. Wenn die daran beteiligt sind, reicht meine Flinte
vielleicht nicht.“
„Aber es sind doch nur dumme Kinder“, widersprach
Elfriede leise und hoffnungsvoll.
„Wenn der Mistkerl Pierre nicht dabei wäre, hättest du
vielleicht recht.“
Seine Frau kniff die Augen zusammen. Wie alle Leute im
Dorf kannte sie die Geschichte von Pierre Pfaffer ganz genau. Auch wenn ihm
niemals nachgewiesen werden konnte, dass er seiner Mutter absichtlich fast den
Schädel eingeschlagen hatte, wusste man im Dorf doch Bescheid. Und niemand
zweifelte an seiner Schuld.
Ihm war in klaren Worten gesagt worden, dass er nicht
mehr zurückkehren sollte, wenn er seine Zeit für die ‚fahrlässige
Körperverletzung‘ abgesessen hatte. Dass er nicht mehr willkommen war.
Wenn er so vermessen war das zu ignorieren, konnte das
nichts Gutes bedeuten.
„Vielleicht rufst du besser Klaus und Franz an und sagst
ihnen, was vor sich geht“, sagte er nachdenklich. „Lieber scheuche ich sie
umsonst aus dem Bett, als dass ich zulasse, dass in diesem Dorf am Ende noch
etwas wirklich Schlimmes passiert.“
„Das mache ich“, sagte sie und schluckte. „Und dann ziehe
ich mich an und begleite dich.“
„Nein, Elfriede!“, widersprach er sofort und in einem
Ton, der keinen Widerspruch duldete.
„Streite nicht mit mir“, fauchte sie. „Ich komme mit.
Basta!“
Fieberhaft überlegte er, wie er sie davon abbringen
konnte. Und zum Glück fiel ihm etwas ein.
„Du musst zu Renate, Liebes. Du weißt so gut wie ich,
dass sie nicht stillsitzen wird. Sie wird eine Dummheit tun. Und du musst sie
aufhalten.“
Mit einem Blick zu ihr erkannte Walther, dass er einen
Volltreffer gelandet hatte. Sie kaute auf ihrer Lippe und dachte nach. Und ganz
am Rande registrierte er, dass sie ihn genau mit dieser Miene damals um den
Finger gewickelt hatte. Deutlich konnte er gerade ihr junges, bildschönes
Selbst vor sich sehen.
„Wir haben keine Zeit für Streitereien. Ich fahre in den
Wald und du zu Renate. Und meine Flinte nimmst du mit. Falls du sie nicht
abhalten kannst, will ich dich bewaffnet wissen.“
Die Zugeständnisse schienen ihr zu reichen. Sie gab sich
geschlagen und gemeinsam schlüpften sie rasch in die Kleidung und holten, was
notwendig war. Einschließlich der alten MP 40 von Walthers Vater, die der
seinem Sohn übergeben hatte, bevor er sich im dämlichen Volkssturm für den ollen
Adolf umbringen ließ.
„Pass auf dich auf, Walther Müller“, sagte seine Frau mit
Tränen in den Augen zum Abschied. „Du magst dir denken, dass du ohne mich nicht
zurechtkommen würdest…“
Er zuckte zusammen, als sie bewies, wie gut sie ihn
durchschaute und dass sie sehr wohl wusste, weswegen er sie nicht dabei haben
wollte.
„Aber ohne dich…“, sie stockte. „Wen sollte ich denn
rumscheuchen und anschreien?“
Er nickte und küsste sie.
„Später wirst du nicht drum rum kommen, mir zu gestehen,
dass du mich noch liebst“, sagte er mit schrägem Lächeln.
„Später“, nickte sie. „Später werde ich dir alles
gestehen.“
*****
Energisch trat Renate aus dem Haus. Sie hatte die Polizei
gerufen und sie hatte bei Müllers angerufen, weil der Walther nicht so weit von
der Bauruine im Wald wohnte. Und weil er als Jäger ein Gewehr hatte.
Die Rentnerin hoffte inständig, dass er seine Flinte
nicht brauchen würde. Aber was auf dem Zettel stand, machte ihr wenig Hoffnung.
Ein dummer Jungenstreich sah anders aus. Selbst
heutzutage. Und er kam nicht so kurz, nachdem sich Peter mit den Pfaffers
angelegt hatte, aus heiterem Himmel.
Renate wusste, dass die beiden jüngeren Brüder Maulhelden
waren. Aber da gab es noch den älteren. Und wo der steckte, wusste niemand.
Er hatte seine Mutter fast totgeprügelt. Was mochte er
mit einem Mädchen anstellen, dass ihm rein gar nichts bedeutete?
Renate wusste, was Gewalt anrichten konnte. Sie wusste es
aus erster Hand.
Nicht nur die Opfer veränderten sich, sondern auch die
Täter. Sie verloren ihre Menschlichkeit. Wurden zu Tieren ohne Mitleid. Bis sie
nicht mehr unterschieden zwischen Schuldigen und Unschuldigen.
Renate war die Letzte, die nicht einräumte, dass für
angetanes Unrecht Vergeltung gerechtfertigt war. Aber was hatten sie und ihre
Schwestern jemandem an Unrecht getan, das rechtfertigte, was ihnen angetan
worden war? Was hatten sie den Russen getan, die über sie hergefallen waren und
Ulrike, Wilhelmina und Franziska hernahmen, bis sie tot waren?
Was konnten Kinder denn schon Schlimmes getan haben?
Nicht noch einmal! Das hatte sie sich geschworen.
Und nun hatte sich jemand ihre Enkelin geholt und wollte
ihr ein Leid antun.
Nun… Sie hatte Rudolfs Luger in der Tasche und sie war
bereit sie einzusetzen. Sie hatte einst einem russischen Soldaten mit einer
Schaufel den Schädel eingeschlagen und einen anderen mit der Mistgabel
aufgespießt und elendig verrecken lassen.
Sie konnte und würde ihre Kinder schützen. Um jeden
Preis!
Nur ob sie nach all den Jahren noch in der Lage war,
Ernsts Höllenmaschine zu bändigen, wusste sie nicht so recht. Die schwere BMW
stand unter einer Plane abgedeckt im Schuppen. Eigentlich sollte sie tip-top in
Schuss sein. Darum kümmerte sich ihr Sohn gelegentlich.
Und eigentlich konnte sie auch ein Motorrad fahren. Ernst
hatte es ihr selbst beigebracht und sie hatte sogar ordentlich Spaß daran
gehabt. Nur war sie da noch wesentlich jünger gewesen.
Na, es nutzte alles nichts. Wenn sie rechtzeitig kommen
wollte, um Schlimmes zu verhindern, konnte sie nicht auf jemanden warten oder
zu Fuß gehen. Also stieg sie auf den Bock und startete mit einigen
Schwierigkeiten die schwere Maschine.
Und dann ließ sie die Kupplung kommen und klappte bei der
ersten Vorwärtsbewegung die Stütze ein, wie sie es gelernt hatte. Sie fuhr!
Nur ob es mit dem Anhalten was werden würde, musste sich
noch zeigen…
*****
Nadia war am Rande der Hysterie.
Sie fand es unerträglich, still im Auto sitzen zu müssen,
während Kenny viel zu langsam und vorsichtig durch das Dorf kurvte. Das Auto konnte
doch bestimmt schneller als hundertzwanzig fahren. Warum schlich er so?
Weil niemandem geholfen war, wenn sie an einer Hauswand
plattgedrückt wurden, beantwortete sie sich die Frage selbst. Aber besser wurde
es dadurch nicht.
Tanja… Immer wieder Tanja.
Gerade, wenn sie anfing, dem Rotschopf eventuell einmal
verzeihen zu können, passierte wieder irgendetwas und Tanja steckte mittendrin.
Nein. Das war unfair. Tanja hatte sicherlich nicht die
Geisel spielen wollen. Sie steckte ebenso in Schwierigkeiten, wie Peter
vermutlich mittlerweile.
Peter…
Nadia musste mit den Tränen kämpfen, als sie sich
vorstellte, dass er allein dem dämlichen Trio von Brüdern gegenüberstand. Drei
gegen einen. Und sie hätte ihr ganzes Geld auf ihren Freund gesetzt, wenn sie
sich hätte sicher sein können, dass die anderen fair spielten. Aber sie konnte
sich leider nur auf das genaue Gegenteil verlassen.
So dämlich diese Scheißhaufen auch sein mochte, so
wahrscheinlich war es, dass sie etwas ausgeheckt hatten. Schon allein, weil sie
aus erster Hand wussten, wie stark Peter war.
Und offenbar wussten sie auch um seine Schwächen…
Mit Tanja und auch noch Patty als Geisel konnten sie ihn
zur Untätigkeit verdammen. Nadia wusste genau, dass Peter niemals seine Lieben
gefährden würde. Wenn sie ihm damit drohten, würde er sich womöglich nicht
einmal wehren.
Aber wenn er sich nicht wehrte… Wenn er tatenlos blieb,
dann…
„Fahr schneller!“, fauchte sie wütend.
„Ich fahr so schnell es geht“, gab Kenny zurück. „Schau
du mal ins Handschuhfach.“
Sie brauchte einen Augenblick, um diese Aufforderung zu
verarbeiten.
„Wozu?“, schnappte sie verwirrt.
„Elektroschocker, Mutter“, antwortete er.
Oh… Oh!
Rasch beugte sie sich vor und riss das Handschuhfach auf.
Es war voller Papiere, Müll und irgendwelchem Kram, aber wenigstens lenkte die
Sucherei sie von ihren Sorgen ein wenig ab.
Trotzdem wurde sie schnell ungeduldig und riss
schließlich den ganzen Mist aus dem Fach. Bis sie endlich das kleine, schwarze
Gerät mit dem Drücker und den beiden Metallspitzen fand.
„Habs!“
„Gut.“
Als sie wieder hochkam, sah sie, dass Kenny das Licht
ausgeschaltet hatte und sie gerade die ersten Bäume passierten. Er verlangsamte
erheblich.
„Was?“, zischte sie alarmiert.
„Anschleichen“, erwiderte er.
Gut… Das mochte sogar Sinn machen.
Aber… so wären sie zu Fuß ja fast noch schneller!
„Kenny“, wimmerte sie gequält.
„Ich weiß, Nadia. Aber wenn wir helfen wollen, müssen wir
vorsichtig sein“, besänftige er sie. „Für Peter, für Patty… und für Tanja.“
Wäre die Situation nicht so angespannt gewesen, hätte sie
eindeutig nachgefragt, wieso seine Stimme bei der Erwähnung von Peters Cousine
so rau wurde. Aber sie hatte einfach andere Dinge, über die sie sich Gedanken
machen musste.
Patty und Peter waren ihr ganz einfach wichtiger als der
Rotschopf.
*****
Längst hatte Peter sich die Lippe blutig gebissen.
Er weigerte sich, vor Schmerz zu schreien oder auch nur
zu stöhnen, obwohl er genau wusste, dass er die beiden Wichser damit nur noch
mehr anspornte. Das hier war kein Spiel mehr, aus dem er mit einem Bluff oder
einer Finte herauskommen würde.
Das war bitterer Ernst.
Rene und Andre hatten sich nicht lange damit aufgehalten,
ihn zu schlagen. Er war schnell zu Boden gegangen und hatte sich
zusammengekrümmt, um die empfindlichen Körperzonen so gut wie möglich zu
schützen. Und die beiden Feiglinge hatten daraufhin angefangen, auf ihn
einzutreten.
Um Rene machte sich Peter dabei tatsächlich weniger
Sorgen. Der Mistkerl war gut darin, Kleinere und Schwächere einzuschüchtern,
aber er teilte nicht sonderlich hart aus. Sein Bruder hingegen hatte reichlich
Erfahrung darin, Leute zusammenzutreten. Und die nutzte er auch.
Das würde nicht mehr lange gutgehen…
Ein sich näherndes Auto verschaffte ihm eine dringend
benötigte Verschnaufpause. Kurz hoffte er darauf, dass womöglich Hilfe nahte.
Aber dem war leider nicht so…
„Wer ist das?“, fragte Rene keuchend. „Bullen?“
„Klar, du Nacken“, grunzte Pierre. „Die kündigen sich mit
zwei Mal hupen an. Machen die immer so…“
„Sind das deine anderen Kumpel“, fragte Andre.
„So siehts aus. Und ich bin gespannt, was sie
mitbringen…“
Peter rührte sich nicht, um keine Aufmerksamkeit auf sich
zu lenken. Er brauchte jeden ungestörten Atemzug, den er bekommen konnte.
Aber dennoch blickte er zu Tanja hinüber, die als Einzige
überhaupt nicht auf das Auto achtete. Tatsächlich sah sogar Pierre nicht mehr
zu ihm. Nur Tanja starrte ihn an und aus ihren weitaufgerissenen Augen strömten
Tränen.
Sie schien ihn stumm anzuflehen, ihr zu verzeihen. Und er
nickte unmerklich und zwinkerte ihr zu. Woraufhin sie schluchzte und Pierre auf
sich aufmerksam machte. Da es allerdings nicht wirklich etwas zu sehen gab,
blickte der auch schnell wieder weg.
Das Auto hielt an und er hörte Autotüren aufgehen.
„Wir haben eine geile, kleine Schlampe mitgebracht, die
auf harte Männer steht“, verkündete jemand.
‚Nadia!‘ schoss es Peter durch den Kopf und seine Angst
um sie jagte ihm einen Adrenalinstoß durch den Körper.
„P-patze?“, keuchte Rene allerdings völlig fassungslos.
„Ich schnall ab!“, grunzte Andre.
„Ist das wirklich meine kleine Patrizia?“, fragte Pierre
fast sanft, aber dabei irgendwie eiskalt. „Meine Güte. Du bist ja zu einer
richtig knackigen, kleinen Nutte geworden. Da freue ich mich jetzt schon auf
deinen Preis.“
„Was’n für’n Preis?“, maulte Rene. „Patze gehört uns. Die
wird nicht verkauft wie die ander’n.“
„Ihr kennt die Schnalle?“, staunte der Neuankömmling.
Peter konnte nicht mehr zuhören. Und er konnte auch nicht
mehr warten. Er musste
handeln. Das war seine letzte Chance!
Die Wut ließ ihn rot sehen. Und sie machte es schwer,
einen sinnvollen Plan zu formulieren. Deswegen versuchte er es erst gar nicht.
Er erhob sich einfach auf die Knie und rammte den beiden Arschlöchern, die
neben ihm standen, die Arme in die Kniekehlen.
Noch während sie aufschrien und fielen, knallte er weit
ausholend seine Faust in Renes Magen und schmetterte ihn damit hart in den
Boden.
Instinktiv wandte er sich dann der größeren Bedrohung zu
und schwang sich zu Andre hinüber, der, noch leicht benommen vom Fall, gerade
versuchte, sich auf die Ellenbogen aufzustützen.
Er registrierte die drohende Gefahr schnell und ließ sich
fallen, um die Arme schützend vor sein Gesicht zu bringen. Aber gegen den
Ellenbogen, den Peter mit seinem gesamten Körpergewicht dahinter in seine
Körpermitte rammte, half ihm das nicht.
Und als er durch den Treffer unwillkürlich nach Luft
ringend mit dem Oberkörper hochkam, während seine Arme dorthin zuckten, wo der
Schmerz am größten war, traf ihn Peters linke Faust direkt auf die Nase und
ließ ihn laut aufschreien.
*****
Der laute Schmerzschrei von Andre ließ alle Anwesenden
die Köpfe herumreißen.
Kurz war die Verwirrung über die plötzliche Veränderung
der Situation allgegenwärtig.
Patty wusste, dass es keine andere Chance mehr geben
würde. Ihren Bruder mit einer Pistole in der Hand zu sehen, kurierte sie von
allen kindischen Hoffnungen auf einen guten Ausgang trotz widriger Umstände.
Als sie sah, wie Peter ihre anderen beiden Brüder von den
Beinen fegte, zögerte sie nicht. Sie legte all ihre Kraft in einen rückwärtigen
Stoß mit dem Ellenbogen in den Bauch des Typen in ihrem Rücken. Und dann sah
sie über das Autodach zum Fahrer des Wagens und wollte losrennen, um ihn
anzuspringen oder irgendetwas anderes zu tun, damit er sich nicht einmischen
konnte.
Dummerweise war ihr Schlag nach hinten nicht hart genug
gewesen, um den Mistkerl wirklich lange zu beschäftigen. Noch im Fallen packte
er ihren Arm und riss sie mit sich zu Boden.
Dem Gewicht eines erwachsenen Mannes konnte sie natürlich
nichts entgegensetzen. Also fiel sie nach hinten.
Überdeutlich sah sie dabei, wie Pierre sich Peter
zuwandte und sich der Arm mit der Waffe langsam in dessen Richtung hob. Aber so
sehr sie auch etwas unternehmen wollte - sie wurde umgerissen und musste sich
gleich darauf selbst mit aller Kraft zur Wehr setzen.
Ihr Gegner hatte sie vielleicht bislang nicht als
Bedrohung betrachtet. Aber nachdem sie ihm wehgetan hatte, kannte er keine
Skrupel mehr und es war ihm offenbar völlig egal, dass er mit einem Mädchen
kämpfte.
Als der Rest der Szene aus ihrem Blick verschwand,
explodierte Schmerz auf ihrer Wange. Direkt unter dem Auge. Und nur der Zufall
verhinderte, dass ihr die Lichter ausgingen.
So hart hatte selbst Rene sie noch niemals geschlagen.
Mit voller Wucht und geballter Faust.
Unwillkürlich schrie sie laut auf.
*****
Die Ereignisse überrollten Pierre. Eben noch war alles
unter Kontrolle und plötzlich brachen überall Prügeleien aus. Waren die alle
beknackt? Wieso ignorierte man die verdammte Waffe in seiner Hand?
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Daniel zu Boden ging.
Aber mit seiner mageren Schwester würde der fertig werden. Sonst würde Pierre
ihm persönlich die Eier abreißen. Wichtiger war, was bei Andre und Rene
passierte.
Natürlich waren die beiden Waschlappen nicht einmal in
der Lage, einen einzelnen Typen richtig zusammenzutreten. Und deswegen lagen
sie jetzt auch beide auf dem Boden und winselten, während sich der Bubi
aufrichtete und ihn aufs Korn nahm.
Zeit, die Scheiße wieder unter Kontrolle zu bringen. Und
da der Wichser sowieso sterben würde, gab es auch keinen Grund mehr zu warten.
Nicht zum ersten Mal richtete er seine Pistole auf einen
Menschen. Seitdem er aus dem Knast raus war, hatte er Anschluss in Kreisen
gefunden, die mit einem Mann ohne Skrupel etwas anfangen konnten. Bevor er den
Bulgaren kennengelernt hatte, war er sogar schon zweimal dafür bezahlt worden,
jemanden umzubringen.
In diesem Geschäft gehörte das dazu. Und es kratzte ihn
auch nicht. Das Einzige, was ihn interessierte, war der Preis, den der Bulgare
für die beiden Mädchen zahlen würde. Und vielleicht noch, ob er diese angeblich
so scharfe Blondine eventuell in die Finger bekommen konnte.
Ohne mit der Wimper zu zucken, legte er auf den dämlichen
Bübler an, der den Fehler gemacht hatte, sich mit seiner Familie anzulegen.
Der Stoß von der Seite, der ihn fast aus dem
Gleichgewicht brachte, kam völlig überraschend. Die verschnürte Schnalle neben
ihm hätte kein Problem darstellen dürfen. Sie war bereits gebrochen und völlig
eingeschüchtert.
Trotzdem warf sie sich jetzt gerade mit aller Kraft gegen
ihn und versuchte, ihn umzustoßen. Und sie legte sich dabei richtig ins Zeug,
sodass er sich ernsthaft erst einmal ihr zuwenden musste, bevor er abdrücken
konnte.
*****
Tanja dachte nicht nach, als ihr Peiniger seinen Arm hob
und die Waffe auf Peter richtete.
Es kam ganz einfach nicht in Betracht, dass jemand ihn
erschoss. Also warf sie sich mit aller Kraft gegen den ältesten der
Pfaffer-Brüder und versuchte, ihn umzustoßen. Und auch, wenn sie dabei nicht
wirklich erfolgreich war, zielte er zumindest für einen Moment nicht mehr auf
Peter.
Zeit, in der ihr Cousin sich aufrappeln und herankommen
konnte, um dem Wichser die Fresse zu polieren.
Mit den Armen an den Oberkörper gefesselt, konnte sie nur
ihren ganzen Körper als Waffe einsetzen. Das musste reichen. Damit musste sie
den Mistkerl einfach so lange bedrängen, bis Peter da war.
Es gab keine andere Möglichkeit.
Es musste
gelingen!
Aber dann waren da plötzlich starke Arme, die sie von
hinten packten und fortzogen. Irgendeiner der anderen Typen, der sie einfach
von Boden hob und zurückzog.
Unbehindert konnte Pierre nun wieder anlegen und die
gefährliche Waffe auf Peter richten, der sich gerade vorwärts stolpernd
näherte.
Kein Schrei gegen ihren Knebel und kein Aufbäumen gegen
die grobe Umarmung half.
Sie konnte nur noch… zutreten!
*****
Der peitschende Knall hallte durch den nächtlichen Wald
und alle, die ihn hörten, erkannten ihn sofort als das, was er war: ein Schuss!
Walther, der gerade zu Fuß den Waldrand erreicht hatte,
hielt kurz inne und fragte sich besorgt, wer da gerade das Ziel gewesen war.
Hoffentlich war es nur ein Warnschuss gewesen. Hoffentlich kam er nicht zu
spät. So schnell er konnte, rannte er weiter.
Renate, sie soeben die ersten Bäume passierte, bremste
scharf ab, als sie das charakteristische Geräusch hörte. Hoffnung und Sorge
tobten in ihrer Brust, aber die Sorge überwog. Sie hatte ein sehr, sehr böses
Gefühl bei dieser Sache und gerade war es noch einmal wesentlich schlimmer
geworden. Es hatte nicht wie ein Jagdgewehr geklungen. Und das war ein
schlechtes Zeichen. Schnell gab sie wieder Gas und fuhr weiter.
Kenny fuhr zusammen, als er das Knallen hörte. Es kam
direkt von der anderen Seite des Rohbaus, an den er sich mit Nadia von hinten
herangepirscht hatte. ‚Zu spät?‘, dachte er. ‚Bitte nicht!‘
„Peter?“, keuchte Nadia und rang nach Luft.
Ihr war fast, als würde ein glühendes Messer ihr in den
Bauch gerammt werden.
Alle Vorsicht war vergessen, als sie einfach losrannte.
Sie musste zu ihm.
Jetzt!
*****
Als Kenny hinter Nadia herstolperte, hatte sie schon ein
paar Meter Vorsprung.
Sie war einfach losgerannt und er konnte es ihr nicht
verdenken. Auch wenn er sich noch mehr Sorgen um Tanja machte, die ja immerhin
als erste in diese Misere geraten war.
Tanja, Peter und auch Patty. Er wollte keinen von ihnen
auf der anderen Seite des Hauses blutend am Boden vorfinden. Und deswegen
rannte er selbst ebenfalls los.
Als er um die Hausecke bog, sah er Nadia nur wenige Meter
vor sich. Und er sah Patty neben der geöffneten hinteren Tür eines Wagens gegen
einen Unbekannten kämpfen, der sie gerade an den Haaren packten und hochriss,
während er ausholte, um ihr die Faust sonstwo hin zu rammen.
Nadia ignorierte diesen Kampf völlig und auch Kenny
wollte am liebsten daran vorbeilaufen, bis er wusste, wie es um Tanja stand.
Aber eine Freundin war in Schwierigkeiten. Und das konnte er nicht ignorieren.
Mit einem lauten Brüllen machte er den Fremden auf sich
aufmerksam und brachte ihn tatsächlich dazu, den Kopf zu drehen und den Schlag
nicht auszuführen.
Aus vollem Lauf sprang er los und nahm die Körpermitte
des Arschlochs aufs Korn. Und die traf er auch mit voller Wucht, wodurch sie
alle drei in einem verworrenen Haufen zu Boden gingen.
Ohne Orientierung konnte sich der drahtige junge Mann nur
nach seinen Instinkten richten. Aber er hatte den Gegner direkt vor sich und so
konnten seine Schläge nicht daneben gehen.
Was unglücklicherweise auf für die Fäuste und Ellenbogen galt,
die auf seinen Rücken knallten…
*****
Als Nadia um die Ecke bog, bestätigten sich ihre
schlimmsten Befürchtungen.
Peter lag mitten auf dem freien Platz vor der Bauruine
auf dem Boden und rührte sich nicht. Und vor ihm stand ein Typ mit einer Pistole
in der Hand, aus deren Lauf sie Rauch zu sehen glaubte.
„Peter!“, schrie sie in vollem Lauf. „Nein!“
Alle anderen Menschen in der Nähe und alles andere auf
der Welt wurde bedeutungslos, als sie ihren Geliebten wie tot daliegen sah.
Alles, bis auf… seinen Mörder!
Noch immer mit voller Geschwindigkeit nahm sie ihr Ziel
aufs Korn, während der Bastard sich in ihre Richtung drehte.
Die Überraschung auf seinem Gesicht bedeutete ihr nichts.
Und ebenso wenig die Waffe, die er herumschwenkte, um auf sie zu zielen.
Er war zu langsam. Sie würde ihn erreichen, bevor er auf
sie schießen konnte.
Und dann würde sie ihn töten!
*****
Tommy konnte nicht fassen, wie plötzlich alles
schiefging.
Eben noch waren sie dabei, einem Knilch eine Abreibung zu
verpassen und eben mal nebenbei ein paar Tussis für den Bulgaren aufzugabeln.
Danach wollten sie sich für eine Weile dünnemachen, weil die Geschichte
sicherlich eine Menge Staub aufwirbeln würde. Aber sie hatten reichlich Freunde
auf dem Balkan, die sie für eine lange Zeit besuchen konnten, wenn es sein
musste.
Alles hätte einfach und ohne Probleme über die Bühne
gehen sollen. Weswegen es ihm auch völlig übertrieben vorgekommen war, Daniel
und Wolfi mitzunehmen. Mehr Beteiligte bedeutete immer auch, dass der Gewinn
durch mehr geteilt werden musste.
Aber jetzt gerade wünschte er sich, sie hätten doppelt so
viele Kumpel mitgebracht, weil einfach dauernd irgendwelche Kids irgendetwas
völlig Unerwartetes taten und nichts lief, wie es geplant war.
Erst schafften es die jämmerlichen Brüder von Pierre
nicht, einen einzelnen Kerl richtig zu vermackeln, dann wurde Daniel nicht mit
einer fliegengewichtigen Schlampe fertig und ging auf die Matte und jetzt
kriegte er es nicht hin, eine Tussi richtig festzuhalten.
Ein gefesseltes
Mädchen!
Die ganze Sache hätte erledigt sein müssen, als Pierre
den Typen erschoss, wegen dem seine Brüder so sauer waren. Aber die dumme Kuh,
die er ihm vom Hals zu halten versuchte, trat ihm an die Hand.
Der Knilch war zwar trotzdem zu Boden gegangen, aber es
hatte doch eher nach einem Beintreffer ausgesehen als nach einem sauberen
Schuss.
Und als wäre das nicht genug, tauchten plötzlich aus dem
Nichts irgendwelche Leute auf und mischten sich ein. Was für eine Scheiße!
Im ersten Moment dachte er fast, er würde Gespenster
sehen, als eine kleine Blondine angeschossen kam und sich auf Pierre stürzte.
Der versuchte zwar, die Pistole rumzureißen, aber er schaffte es nicht. Er
konnte nur so eben ihre Hand packen, in der sie einen verfickten Elektroschocker
hielt, den sie offenbar auch einsetzen wollte, so wie das Ding knatterte und
Funken erzeugte.
Mit voller Wucht krachte sie gegen ihn und warf ihn um.
Und dann wälzten sich die beiden auf dem Boden rum und kämpften um die
Kontrolle über den Schocker. Obwohl Pierre doch eigentlich keine Probleme mit
der Kleinen haben sollte.
Was zum Henker frühstückten die scheiß Kids hier denn,
dass die alle so verdammt stark waren? Steroide?
Dann sah er auf dem Boden neben Pierre und der Blondine
die Pistole liegen und erkannte die Chance, die Sache zu bereinigen. Selbst
wenn Wolfi nicht endlich mal seinen Arsch von seinem Aussichtsposten her
bewegte.
Grob stieß er die Rothaarige von sich. Sie war gefesselt
und würde hoffentlich keine Probleme mehr machen.
Dann hechtete er vorwärts auf die Pistole zu.
Und fast hätte er sie auch erreicht…
*****
Der Schmerz war die Hölle!
Für einen langen Augenblick war ihm schwarz vor Augen
geworden. Und wäre da nicht dieser eine Laut gewesen, hätte er es vielleicht
auch einfach aufgegeben.
Aber dann hörte er Nadias Stimme seinen Namen schreien
und wusste, dass er nicht aufgeben konnte. Nicht, solange Menschen in Gefahr
waren, die er liebte.
Alles war verworren und er wusste nicht, was geschah.
Sein Bein brannte wie die Hölle, seine Muskeln protestierten gegen jede
Bewegung und sein ganzer Körper fühlte sich an, als wäre er durch den
Fleischwolf gedreht worden.
Dann sah er etwas Schwarzes vor sich im Dreck liegen.
Direkt neben ringenden Körpern, die er schon kaum noch erkennen konnte.
Etwas sagte ihm, dass es die Pistole sein musste. Und
dass er sie an sich bringen sollte.
Als ein Körper in sein Blickfeld kam und sich eine Hand
nach der Waffe ausstreckte, wusste er aber auch, dass dieser Typ sie nicht
erreichen durfte. Und damit hatte er ein Ziel, an dem er sich festhalten
konnte.
Er packte den Körper einfach und zerrte daran, um ihn
näher zu sich zu bringen. Und dadurch entfernte sich die Hand von der Pistole.
Was gut war. Vermutlich…
Als sich der Fremde ihm zuwandte und anfing, nach ihm zu
schlagen, wurde das unwichtig. Er konnte sich nur noch darauf konzentrieren,
sich zu wehren und vielleicht selbst einen Schlag auszuteilen.
Mehr war nicht drin…
*****
Andre musste seine Nase nicht anfassen, um zu wissen,
dass sie gebrochen war. Also ließ er es bleiben und sparte sich den Schmerz.
Seine tränenden Augen raubten ihm die Sicht und der
Schmerz raubte ihm den Atem. Und als er beides halbwegs unter Kontrolle hatte,
war die Kacke übelst am Dampfen.
Plötzlich stand niemand mehr. Alle lagen am Boden und
kämpften mit irgendwem. Pierre mit der scheiß Blondine, dieser Tommy mit dem
Wichser von Bübler und irgendwer hinter dem Wagen mit irgendwem.
Große Scheiße…
Aber da alle beschäftigt waren, interessierte sich
irgendwie niemand mehr für die Pistole, die einfach so im Dreck lag. Und das
war doch perfekt, um selbst mal einen coolen Auftritt hinzulegen.
Mit einer Knarre konnte er den Mist hier beenden und
außerdem würde das Arschloch Pierre ihn dann auch nicht mehr so dumm von der
Seite anmachen.
Schnell kämpfte er sich auf die Beine, um diesen
perfekten Plan in die Tat umzusetzen. Aber er kam nicht einmal drei Schritte
weit…
Von der Seite her kam der letzte von Pierres Kumpels
angelaufen. Wulfi oder Wolfi oder sowas.
Und leider hatte der bereits eine Knarre in der Hand und
Andres Auftritt fiel damit ins Wasser, weil die Show jetzt natürlich vorüber
war.
Drecksscheiße!
*****
Tanja brauchte eine Weile, um wieder zu Atem zu kommen,
nachdem sie einfach achtlos zu Boden geworfen worden war. Ohne Arme hatte sie
ihren Fall nicht bremsen können und war mit Brust und Kopf aufgeschlagen. Für
kurze Zeit drehte sich alles vor ihren Augen.
Als sie sich halbwegs aufgesetzt hatte, sah sie, dass
noch längst nicht alles vorbei war. Aber sie sah vor allen anderen Dingen, dass
sie nicht völlig versagt hatte!
Auch wenn Peter zu Boden gegangen war, als der Schuss
fiel, kämpfte er jetzt mit dem Typen, der sie zuvor festgehalten hatte. Und wer
kämpfte, der lebte.
Direkt daneben sah sie Nadia mit Pierre ringen, und auch
wenn ihre einstige Freundin deutlich weniger Masse hatte, war der Kampf noch
nicht entschieden. Also gab es wirklich Grund zur Hoffnung.
Die starb jedoch fast wieder, als sie einen weiteren
ihrer Entführer heraneilen sah. Mit… einer weiteren Pistole in der Hand.
Einen Augenblick lang verließ den Rotschopf alle Kraft.
Sie konnte nicht mehr. Und für jeden der Mistkerle, der zu Boden ging, tauchte
ein Neuer auf. Das war einfach nicht fair…
Aber dann sah sie, wie der Neuankömmling sich verwirrt
umsah und die Waffe auf Peter anlegte, der seitlich zu ihm lag. Und sofort
wusste sie wieder, was sie tun musste.
Aus dem Sitzen ins Knien war einfach und aus dem Knien
auf die Füße ebenso. Ohne den Blick von dem Fremden zu nehmen, der sich
offenbar noch nicht völlig sicher war, ob er schießen sollte, stand sie auf und
rannte los.
Der kürzeste Weg führte zwischen den Ringenden hindurch
und direkt in die Schusslinie, aber das war ihr egal. Wenn es sie erwischte,
war das tausend Mal besser, als wenn Peter starb. Eigentlich wäre es sogar
das Beste.
Als sie ein Schlag in die Magengegend traf, verstand sie
nicht, woher der so plötzlich gekommen war.
Erst, als sie zum zweiten Mal in dieser Nacht - und ihrem
kurzen Leben - das laute Krachen eines Schusses hörte, ging ihr ein Licht auf.
Und mit dem Licht kam auch der Schmerz!
Aber er blieb nur, bis sie wieder in den Dreck knallte
und das dreifache Echo des Schusses in ihrem Kopf verhallt war. Dann senkte
sich gnädige Schwärze herab und nahm ihr Schmerz, Angst und Schuldgefühle.
Sie hatte endlich einmal das Richtige getan…
*****
Der Schuss brachte alle Kämpfe für einen Moment zum
Erliegen. Niemand hatte damit gerechnet und alle waren überrascht. Außer Nadia,
die nur ein Ziel hatte und alles andere ignorierte.
Als Pierre zusammenzuckte und für einen Sekundenbruchteil
abgelenkt war, brachte sie die Metallspitzen des Schockers in Kontakt mit
seiner Wange und drückte den Auslöser. Und dann zuckte sie zurück, als sie
selbst einen Schlag bekam, wo sie ihn berührte.
Eigentlich hätte sie ihn am liebsten mit so vielen
Stromstößen traktiert, dass er nie wieder aufstand, aber ihr Blick fiel
zufällig auf Peter, der ganz und gar nicht tot war.
Er sah zur Seite und rang keuchend nach Atem, bevor er
sich kriechend und schluchzend in Bewegung setzte. Als sie dorthin blickte, wo
er hinsah, verstand sie weswegen.
Tanja lag dort verkrümmt auf dem Boden und kurz vor ihr
stand ein weiterer der Wichser, die für all das hier verantwortlich waren. Mit
einer Pistole in der Hand.
Vor Mitleid zuckte sie zusammen. Das hatte Tanja nicht
verdient!
Vor allem, da sie offenbar versucht hatte, Peter zu
schützen, der genau in Schussrichtung lag.
Und der… das
nächste Ziel des Arschlochs sein würde!
Bevor sie den Gedanken zu Ende gebracht hatte und
aufspringen konnte, um etwas zu unternehmen, knallte es wieder. Diesmal
allerdings irgendwie dumpfer und anders als die beiden Male zuvor. Und ganze
drei Mal.
Wie eine verrückt gewordene Marionette zuckte der Typ mit
der Pistole zusammen und stolperte rückwärts, während sein Shirt aufplatzte und
rote Punkte sichtbar wurden.
Was…?
*****
Renate hatte gezögert, den ganzen Weg bis zu der Bauruine
zu fahren. Aber dann sah sie in der Ferne im Scheinwerferlicht eines Autos ein
großes Gerangel und wagte es doch.
Kurz darauf war sie froh darüber.
Auf den ersten Blick war niemand mehr auf den Beinen.
Alle möglichen Gestalten rangen miteinander und waren unmöglich
auseinanderzuhalten. Mit einigen wenigen Ausnahmen…
Tanjas Haare mochten schmutzig sein, aber sie waren
unverkennbar. Und so sah Renate ihre Enkelin mit gefesselten Armen und
praktisch nackt aufspringen und losrennen, nur um bezeugen zu müssen, wie ein fremder
Bursche am Rand des Geschehens seine Pistole abfeuerte und sie kaltblütig
erschoss.
Schockiert rang die Rentnerin nach Luft und fühlte, wie
ihr Tränen in die Augen schossen. Aber sie sah auch, wie der Mörder seine Waffe
weiterhin hochhielt und sich ihren Enkel Peter als nächstes Ziel aussuchte.
Ohne nachzudenken, stellte sie sich so auf, wie Rudolf es
ihr gezeigt hatte. Fester Stand, die Waffe in beiden Händen und über Kimme und
Korn gezielt. Einatmen, ausatmen, den Atem anhalten und abdrücken. Es passierte
alles genau so, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Und da sie das Bocken der Waffe tatsächlich viel besser
unter Kontrolle hatte als vor all den Jahrzehnten, konnte sie es drei Mal tun,
bevor sie nachkorrigieren musste. Aber drei Schüsse waren offenbar mehr als
genug, denn der Mörder kippte bereits nach hinten und ließ die Waffe fallen.
Erst dann gestattete sie sich ein Blinzeln, um den Blick
von Tränen zu klären. Und beinahe hätte sie auch das bitter bereut.
Kaum sah sie wieder etwas klarer, erblickte sie nämlich
einen weiteren Fremden, der mit einer Waffe auf Peter anlegte. Als hätten es
alle diese verfluchten Bastarde nur auf ihre Enkel abgesehen.
Er saß auf dem Boden und die Waffe musste in seiner Nähe
gelegen haben. Nun hob er sie und zielte auf den Rücken ihres Enkels, der über
den Boden auf Tanja zu kroch und eine Blutspur hinter sich herzog.
Entschlossen legte sie auf das neue Ziel an. Und konnte
gerade noch so den Finger vom Abzug nehmen, als die kleine Nadia ihr in die
Schusslinie flog.
Mit einem wütenden Aufschrei warf sich die Blondine gegen
den Burschen und dann zuckte er plötzlich, als habe er einen Anfall. Wieder und
wieder und wieder.
*****
Dass Walther zu spät kam, wusste er schon, als er
keuchend die letzten hundert Meter durch den Wald hetzte. Fünf Schüsse
verhießen nichts Gutes. Dabei musste einfach jemand zu Schaden gekommen sein.
Doch als er aus dem Gebüsch trat, sah er schon auf den
ersten Blick Renate mit einer alten Luger im Anschlag am gegenüberliegenden
Rand des Geschehens stehen. Und das gab ihm Hoffnung.
Bis er das halbnackte Mädchen in einer größer werdenden
Blutlache daliegen sah…
Seine Wut bezähmend sah er sich weiter um und entdeckte
mindestens zwei der Pfaffer-Brüder auf den Beinen und bereit, sich aus dem
Staub zu machen. Und noch immer gab es Gerangel bei einem herumstehenden Wagen.
All das endete abrupt, als er einen kurzen Feuerstoß in
die Luft abgab. Niemand bewegte sich mehr nach diesem eindeutigen Beweis, dass
überlegene Feuerkraft vor Ort war und es mit jeder Pistole aufnehmen konnte.
Niemand, bis auf den jungen Peter. Und kurz darauf auch
die kesse Blondine, die irgendwie zu ihm gehörte.
Der Junge kroch mit einer ordentlich blutenden Beinwunde
zu seiner Cousine und schluchzte. Und das andere Mädchen rannte nach kurzem
Zögern zu ihm hin und half ihm, sich bei dem bewegungslosen Rotschopf
aufzurichten.
Wenn es noch etwas zu retten geben sollte, musste es
schnell gehen. Da sagte dem erfahrenen Jäger die Blutlache. Aber solange da
noch irgendwelche Fremden eventuell bewaffnet waren, hatte das einfach
Priorität.
Also trieb er sie zusammen und überließ es Renate, nach
ihrer Enkelin zu sehen.
Zwei der Pfaffers waren weitgehend wohlauf, wenn auch
ramponiert. Ein weiterer war bewusstlos. Und hinzu kamen ein ramponierter, ein
bewusstloser und ein toter Fremder.
Den Beamten in den aus der Ferne anrückenden
Streifenwagen, deren Blaulichter man bereits sehen konnte, die Lage zu
erklären, würde nicht sehr erfreulich werden.
„Hast du Verbandsmaterial bei dir, Walther?“, fragte
Renate besorgt. „Tanja ist…“
„Leider nicht, Renate“, gab er zurück. „Aber Hilfe ist in
wenigen Minuten hier.“
Daraufhin wollte die Rentnerin sich abwenden, aber er
hielt sie auf.
„Du gibst mir besser die Luger.“
„Warum?“, fragte sie und drehte sich weg, wie um die
Waffe vor seinem Zugriff zu schützen.
„Weil ich so eine Pistole besitzen darf und all das
leichter zu erklären sein wird, wenn ich sie bei mir trage.“
„Oh…“, machte sie erstaunt. „Aber…“
Gerade wollte er ihr erklären, dass er ebenso wenig
gezögert hätte, die Waffe einzusetzen. Und dass er es mit ihrer Hilfe auch der
Polizei erklärt bekommen würde. Aber sie wurden unterbrochen.
Hustend und keuchend richtete sich der
Hauptverantwortliche für das ganze Schlamassel auf und schüttelte den Kopf, um
seine Benommenheit abzuschütteln. Und dann wollte er aufspringen, weil er sich
der Lage wohl noch nicht recht bewusst war.
„Wohin denn, Bürschlein?“, grollte Walther und gab ihm
einen Stoß mit dem Lauf der Maschinenpistole.
„Was willst du, Opi?“, schnauzte der Mistkerl, bevor er
die Waffe identifizierte und sich wieder auf den Hintern fallen ließ.
„Diesmal wirst du nicht so schnell wieder aus dem Knast
kommen“, versprach der Jäger ihm finster.
„Glaub bloß nicht, dass ihr deswegen sicher seid“,
knurrte Pierre Pfaffer. „Dafür werdet ihr alle bezahlen!“
Walther sah in seinen Augen, dass er es ernst meinte.
Selbst die Augen eines tollwütigen Fuchses enthielten noch mehr Menschlichkeit
als dieser kalte Blick. Hätte es einen Zweifel gegeben, dass der Bursche seine
eigene Mutter fast erschlagen hätte, wäre er in diesem Moment verflogen.
Kurz war Walther mehr als nur ein wenig versucht, dem
Ganzen hier ein Ende zu bereiten. Rasch, bevor die Polizei eintraf.
Das Knallen eines Schusses ließ ihn gehörig
zusammenfahren und schreckte alle auf. Und es enthob ihn der Entscheidung.
„Nein“, sagte Renate kühl. „Du bezahlst.“
Danach musste er ihr die Waffe fast mit Gewalt abnehmen,
weil sie die Verantwortung für ihre Tat nicht abgeben wollte. Es gelang ihm
gerade noch früh genug, das restliche Magazin in die Luft zu entleeren. So
konnte er wenigstens behaupten, es wären Warnschüsse abgefeuert worden und
niemand konnte wissen, wann genau Pierre Pfaffer sich die Kugel eingefangen
hatte.
Dann jaulten jedoch schon die Sirenen auf und das
Blaulicht flackerte durch den Wald.
‚Gott sei Dank ist alles unter Kontrolle‘, dachte er bei
sich. ‚Wären die Idioten vorher mit Blaulicht angerückt, hätte es ein viel
größeres Blutbad gegeben…‘
nicht schlecht !!!
AntwortenLöschengibt es den noch eine fortsetzung als ende wäre es Blöd
Danke dir.
LöschenJa, es gibt noch einen Epilog und einen Epilog vom Epilog in einem Teil. ;-)
Mike, ich bin sprachlos, habe feuchte Hände und nen trockenen Hals. Unglaublich spannend, schnell und dicht.
AntwortenLöschenBoah - Klasse
Danke dir vielmals, 64er. Das war genau das Gefühl, das ich erzeugen wollte. Das Finale sollte exakt die von dir genannten Attribute aufweisen. *froi*
LöschenDas Epilog wird dafür dann wieder ruhiger. ;-)
Wow sag bescheid wenn du mal ein Buch rausbringst. Bin überrascht, aber positiv überrascht. Einfach richtig gut geschrieben.
AntwortenLöschenMach ich, Georg. Und vielen lieben Dank!
LöschenIch hoffe, ich kann dich noch öfter überraschen! ;-D
Krasses Ende. Bitte gönne den Protagonisten das sie durch diesen doch bösen Teil nicht auseinandergehen. Dafür hast Du sie doch zu sympatisch rübergebracht.
AntwortenLöschenDanke dir! Ich kann natürlich nichts verraten, aber der Epilog wird auf jeden Fall ruhiger. ;-)
LöschenWoW Extrem aufregender Teil!
AntwortenLöschenSehr spannend und mitreißend geschrieben. Man fiebert richtig mit den Protagonisten mit und hofft darauf das alles gut ausgeht. Ich hatte auf jeden Fall kurz vor dem Ende ordentlich Herzrasen. Vor allem das die Oma so hart drauf ist und kaltblütig den Anführer abknallt war für mich unerwartet aber irgendwie positiv (der ist ja wirklich kein Verlust für die Gesellschaft).
Jetzt hoffe ich natürlich stark das Tanja wieder gesund wird und natürlich wie sich das ganze jetzt mit dem Eintreffen der Polizei weiter entwickelt.
Also, ich denke ich spreche für viele Leser wenn ich sage das die Fortsetzung jetzt schon mit großer Spannung erwartet wird!
Hoffe bei dir läuft neben dem Schreiben auch sonst alles super!
Just Me
Danke dir für das ausführliche Feeback!
LöschenEs freut mich, dass ich dich mitreißen konnte. Das war schon die Absicht. Und ich hoffe, ich kriege wegen deines Herzrasens keinen Ärger mit deinem Arzt... ;-D
Was die Oma angeht: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass hinter den liebenswerten Großelternfassaden manchmal Menschen stecken, die einen wirklich überraschen können. Starke, selbstbewusste und im Notfall eben auch entscheidungsfähige Menschen, die aufgrund ihrer Lebenserfahrungen manchmal sehr endgültige Entscheidungen treffen.
Deine offenen Fragen wird der Epilog sicherlich beantworten. Und ansonsten läuft es mit dem Schreiben sehr gut. Danke der Nachfrage! ;-)
Heftig. Aber großartig. Und natürlich: kein Sex! :O (Was nichts schlechtes ist.)
AntwortenLöschenGut und fesselnd angefangen und dann bis zu einem (etwas blutigen) Showdown gesteigert. Die Rolle der einzelnen Charaktere gefallen mir gut, vor allem Pattys Idee sich anzubiedern hat mir (aus taktischer Sicht) gefallen, aber auch Renate ist hier hervorzuheben. Ein äußerst gelungener, sehr kohärenter Charakter. Sehr gut wurden auch die Erinnerungen an ihre Erlebnisse Ende 2. Weltkrieg übe die ganze Geschichte hinweg eingestreut.
Auch ich erwarte eine Fortsetzung, wobei ich stark hoffe, dass Tanja nicht stirbt (was schade für alle beteiligten, allen voran Kenny und Peter, wäre.
Danke auch dir. Kein Sex, nicht einmal nennenswerte Erotik. Ja, das kann man schon als ungewöhnlich bei mir betrachten (obwohl es bei der Fortsetzung von Blutrache damit auch so weitergeht...)
LöschenKeine Sorge. Ich kehre der Erotik nicht den Rücken. Aber hier hätte sie einfach nicht gepasst.
Danke dir auch für das Feedback zu den Charakteren. Im Epilog lasse ich letztlich auch die Charaktere ein klein wenig Zu Wort kommen. Da wirst du sehen, was Oma Renate über all die Aufmerksamkeit und das Lob denkt, das in ihre Richtung geht. ;-)
Auf deine Frage kann ich natürlich nicht antworten, aber auf den Epilog muss keiner lange warten...
Sehr spannend geschrieben. Mein großes Kompliment!
AntwortenLöschenFür meinen Geschmack ist es nur – wenn man die Vorgeschichte betrachtet – plötzlich sehr viel Handlung mit sehr vielen Personen auf einmal. Andererseits: Gerade das macht auch wiederum einen gewissen Reiz aus und sorgt für jede Menge Pfeffer in der Handlung!
Wie auch immer: Dadurch, dass es so spannend war, hast du nun eine gewisse Verantwortung: Eine weitere monatelange Pause müsstest du als seelische Folter deiner Leser ansehen. Und mit so einem Gewissen würde ich an deiner Stelle ja nicht leben können … :-)
Danke vielmals, Jens. Ja, dieses Finale war stilistisch auf jeden Fall anders als der Rest. Ich war ein wenig in Sorge, ob es als Stilbruch wahrgenommen werden würde.
LöschenPfeffer in der Handlung war allerdings beabsichtigt. ;-D
Was die Wartezeit angeht: Tage, mein Lieber. Nur wenige Tage noch. ;-)
Hallo Mike
LöschenAuch von meiner Seite vielen Dank für diesen Teil.Bei Rennate hatte ich sowas erwartet.Sie ähnelt meiner,leider schon verstobenen Oma.
Ich denke dass diese Generation mit ihren Erfahrungen im Krieg im Notfall eine Härte zeigen welche vor allem meine Generation (Baujahr1964) nicht haben.
Ich wünsche Dir (und natürlichvorallem auch uns)noch viele gute Einfälle.
Und falls ein Buch kommt ist s schon bestellt
Vielen Dank für jede Menge :
Schlafmangel ,Wut, Ärger, Frust und unendlichem Lesegenuss gepaart mit Freude
Helmut (euroairliner@web.de
Eine wundervolle Geschichte leider ist diese nun zuende :(
LöschenIch finde es Klasse das Tanja nun doch noch mit Kenny zusammengekomme ist.
Vielen Dank für diese Geschichte auch wenn es manchmal Nervernzereißend lange dauerte mit den Fortsetzungen.
Mach weiter so.
Wann geht Soulmates den weiter ? *FG*
Danke dir, Helmut! Freut mich, dass ich sogar ein paar schöne Erinnerungen wiedererwecken konnte. Ja, die Generation der Renates hat ihre Macken, aber auch ihre wirklich bewundernswerten Seiten. Aber auf deine trifft das nicht weniger zu. ;-)
LöschenGern geschehen und Entschuldigung. Und sicherlich gehen mir die Einfälle nicht so bald aus. ;-D
Danke für den emotionalen Schluss der Geschichte. Ich habe lange darauf gewartet, aber es hat sich gelohnt! Wunderbar herausgearbeitete Charaktere, eine schlüssige Story und Sex zum hautnah miterleben. Ich würde mich über Fortsetzungen richtig freuen! Nochmal vielen Dank.
AntwortenLöschenGern geschehen! Und danke für dein Feedback!
LöschenÜber die Fortsetzung habe ich ja schon viel gesprochen. Ich denke, bei deiner Geduld darfst du hoffen - und dich vielleicht derweil mit anderen meiner Geschichten unterhalten... ;-D